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Ein neues Werk zur Geschichte, Nordhalben 1900 – 1950

Nordhalben: Als Nordhalben 2004 die 850-Jahr-Feier seiner Erstnennung begehen konnte, haben zwei Nordhalbener Brüder, Harald und Horst Wunder, eine Geschichte ihres Heimatortes vorgelegt unter dem beziehungsreichen Titel „Grenzerfahrungen Nordhalben 1154 – 2004“. Dabei konnten manche Zeitabschnitte nur im Überblick dargestellt werden, teils aus Quellenmangel, teils zur Umfangsbegrenzung. Nun ist es möglich, die Darstellung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch neues Quellenmaterial zu ergänzen und zu vertiefen. Ein Nordhalbener Bürger, Georg Wunder (1899 – 1980), Hausname Roten-Görg, hat nach seinem Eintritt ins Rentenalter zwischen 1967 und 1969 die ereignisreiche Zeit seines Lebens und vor allem die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen beschrieben, denen die Einwohner Nordhalbens von der vorindustriellen Zeit um 1900 bis zum Beginn des sogenannten Wirtschaftswunders nach 1950 ausgesetzt waren. Besonders eindringlich und nichts beschönigend legte er – teilweise am exemplarischen Beispiel seiner eigenen Familie – vor allem die äußerst kargen Verhältnisse dar, in denen die Menschen des Frankenwaldes um 1900 lebten. Vor der Industrieansiedlung gab es nur wenig und sehr schwere Arbeit (beim Forst, in den benachbarten Thüringer Schieferbrüchen) sowie noch schlechter bezahlte Heimarbeit für die ganze Familie (Anfertigung von Schiefertafeln, Filetstickereien, Klöppelspitzen). Der Autor beschrieb auch die sehr beengten Wohnverhältnisse, die auf den überschnellen Wiederaufbau des Ortes nach dem Totalbrand von 1856 zurückgingen, dazu die mühselige Arbeit der Kleingütler auf den meist winzigen Äckern und Wiesen (samt den bescheidenen Freuden der Sensenmahd und des Kartoffelgrabens), ebenso die äußerst karge Ernährung und die Probleme der Wasserversorgung in der Brunnenzeit (vor 1913). Eingehend ließ er sich über das Thema „Kleidung“ aus, über Schule und Lehrer, über Vereine und Feste, über die viel besuchten Markttage, über Pfarrer und Bürgermeister, insbesondere über den seinerzeit Aufsehen erregenden Pfarrer Grandinger, sowie über das Lokalblatt, den Nordhalbener Grenzboten, der stets für kraftvoll-derbe Artikel sorgte. Natürlich ging der Verfasser auch darauf ein, dass die anfängliche Begeisterung zu Beginn des Ersten Weltkriegs sehr schnell einer Ernüchterung und Enttäuschung gewichen war. Er berichtete von den gravierenden Versorgungsproblemen, von schier unglaublichen Überstunden in manchen Betrieben, von Entbehrungen, Hunger und Epidemien – und von vielen Gefallenen. Die Ansiedlung mehrerer Firmen um 1905/10 in Nordhalben hatte hier eine wesentliche Verbesserung der wirtschaftlichen Lage gebracht. In einem dieser Betriebe (Firma Menger) fand Georg Wunder als Vierzehnjähriger eine Anstellung als Maschinenschlosser und Dreher, und hier arbeitete er auch – mit zwei Unterbrechungen – bis zu seinem Eintritt ins Rentenalter (1964). Nach zweijährigem Kriegsdienst 1919 aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt, engagierte er sich bald in der Gewerkschaftsbewegung vor allem für die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter in seinem Betrieb. Seine offenen Worte gegen Lohnkürzungen und erhöhte Arbeitszeiten sowie seine politische Stellungnahme hatten für ihn in doppelter Weise bittere Folgen. Während der Wirtschaftskrise wurde er 1930 als einer der ersten entlassen und war in schwerster Zeit jahrelang arbeitslos. Schließlich wurde er deswegen auch noch 1933 durch die neuen braunen Machthaber verhaftet und saß mehrere Wochen in sogenannter „Schutzhaft“, einer Art Warn- und Beugehaft. Dieses Erlebnis hat bei ihm tiefe Wunden geschlagen: er zog sich weitgehend in sich selbst zurück. Mit größter Sorge verfolgte er die Politik der Nationalsozialisten, die binnen kurzem in den Zweiten Weltkrieg führte. So begab er sich in seinen geliebten Büchern auf die Suche nach einem festen Halt in dieser Welt. Er, ein einfacher Fabrikarbeiter, der nie eine höhere Schule besucht hatte, wurde schließlich fündig in der Gedankenwelt des Philosophen Friedrich Nietzsche, besonders in dessen Vorstellungen vom „wahren Menschentum“. Ausführlich ging er auf die letzten Kriegstage in Nordhalben ein. Besonders plastisch berichtete er dabei aus eigenem Erleben, hatten ihn doch die Amerikaner auf eine lebensgefährliche Erkundungsmission nach Dürrenwaid geschickt, aus dem kurz vorher noch auf die anrückenden Alliierten geschossen worden war. Der Autor skizzierte auch das Chaos nach Kriegsende: den Zusammenbruch der Versorgung, die Völkerwanderung der ersten Nachkriegsmonate, die Not der Flüchtlinge und das Problem ihrer Unterbringung, die Trauer um viele Gefallene und Vermisste und nicht zuletzt die Errichtung der Zonengrenze auf einem Teil der Gemeindegrenze, die fortan als Eiserner Vorhang für Nordhalben von einschneidender Bedeutung sein sollte. Dass es schon anfangs der 50er Jahre dann zu einem schnellen wirtschaftlichen Aufschwung kam, registrierte er mit großer Verwunderung. Georg Wunder beschrieb chronikartig das Geschehen und die hiesigen Lebensverhältnisse in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eingefügt sind immer wieder teils sachlich und nüchtern, teils heiter und ironisch Schilderungen von Begebenheiten aus seinem eigenen Erleben. Es finden sich daher kleine Episoden oft grotesker Art, mehr oder minder spitze Charakterisierungen damaliger Amtspersonen sowie farbige, ja drastische Ausmalungen von Sitten und Gebräuchen, jene Geschichten also, die man gerade in Nordhalben gerne hört (und nicht nur hier). Es sind Geschichten in der Geschichte, die historische Darstellungen bunt und unterhaltsam machen. Die chronikalischen Aufzeichnungen Georg Wunders, die nun der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden, sind mit einigen (sachlich unwesentlichen) Kürzungen im Wortlaut abgedruckt. Sie bedürfen keines Kommentars. Die Herausgeber haben dem Werk jedoch ein ausführliches Vorwort vorangestellt. Sie werden die Aufzeichnungen des Roten-Görg, ihres Onkels, in einer besonderen Veranstaltung der Ortsgruppe Nordhalben des Frankenwaldvereins am Donnerstag, 30. Oktober, um 19.30 Uhr im Hotel „Zur Post“ vorstellen, einige typische Kapitel daraus vortragen und etwaige Fragen zu beantworten versuchen. Bei dieser Gelegenheit kann der Band auch käuflich erworben werden. Alle heimatgeschichtlich Interessierten sind zu dieser Veranstaltung herzlich eingeladen. mw


Georg Wunder (1899 - 1980)