Schlagzeilen:
Vor zwanzig Jahren wurde der Eiserne Vorhang durchlässig
- Details
-
Erstellt am Mittwoch, 18. November 2009 05:56
-
Geschrieben von Michael Wunder
Nordhalben: Jetzt, am 18. November gegen 6 Uhr, sind es fast auf die Minute genau 20 Jahre, als die Grenze bei Nordhalben geöffnet wurde.
Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie am späten Nachmittag des 10. November, wo ich gerade im Auto von Hof in Richtung Heimat auf Höhe vom Sellanger unterwegs war, im Radio die Nachricht kam, dass die Grenze zur DDR auch in Ludwigsstadt fallen würde. Mein erster Gedanke – obwohl man damals ja nicht glauben konnte, dass dies überall kommen werde, war: „Wie könnte der Übergang bei Nordhalben aussehen?“. Ich war zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt und kannte kein anderes Gesicht der Grenze als den Schlagbalken und den dahinter liegenden hohen Zaun sowie die Wachtürme. Auch sonst blieben wir entlang des Buckenbergs, wo ich bereits als Bub mit dem Vater in den Wald fuhr, immer in einem entsprechenden Abstand zur Grenze. Die Einreise der ersten Passanten in Ludwigsstadt an den darauf folgenden Tagen habe ich der örtlichen Zeitung entnommen. Die folgenden Tage verliefen, obwohl man die Meldungen in den Medien natürlich genauestens verfolgte, recht ruhig. Am Anfang der folgenden Woche wurden zwar immer wieder Gerüchte wach, dass auch der Grenzübergang bei Nordhalben geöffnet würde – so richtig bestätigt wurde aber nichts. Selbst bis Donnerstagvormittag, wo ich wie viele meiner Kollegen und Freunde zu diesem Zeitpunkt täglich am Grenzübergang war, gab es noch keine offizielle Meldung. Unser damaliger Bürgermeister Lothar Persicke war diesbezüglich auch aktiv, konnte aber wie auch die damals noch in Nordhalben stationierte Grenzpolizei keine positive Meldung der Grenzöffnung in Erfahrung bringen. Erst als am Donnerstagnachmittag die Bauarbeiten auf Thüringer Seite begannen, kam immer mehr Licht ins Dunkel und es wurde immer deutlicher, dass es nur eine Frage der Zeit sei, wann der Eiserne Vorhang auch in Nordhalben fallen werde. Nunmehr begann man auch auf bayerischer Seite mit dem Ausbau des kurzen Straßenstücks, um – nach Ludwigsstadt – die zweite Verbindung im Landkreis Kronach herzustellen. In einer Gemeinschaftsleistung, der legendäre Horst Hertel, Chef der gleichnamigen Firma, legte damals selbst Hand an und ging nach seinem Motto „des is a Raffer“ mit dem Radlader zur Sache. Trotz weit fortgeschrittenem und schnellem Baufortschritt, um zumindest „provisorisch“ den Übergang zu nutzen, herrschte auch am Freitag noch Ungewissheit, wann die Stunde der Öffnung denn nun kommen werde. Ich trat in meiner Eigenschaft als Rotkreuzmitglied in Erscheinung und war am Freitag mit weiteren Kameraden für die Verpflegung der Arbeiter und Diensthabenden zur Stelle. Bereits vorher, es dürfte Anfang Oktober gewesen sein, als die ersten Züge über Hof einrollten, war ich ebenfalls mit einigen Mitgliedern unserer Bereitschaft dabei, als es im Kreisverband Kronach darum ging „Lanschpakete“ für die Zugausreisenden herzurichten. Zurück nach Nordhalben: Hier verdichteten sich im Laufe des Freitagnachmittag die Anzeichen, dass eine Öffnung für Samstag früh um 6 Uhr geplant sei. Zu diesem Zeitpunkt war dann bereits eine große Menge von Nordhalbener Bürgern am Übergang, um die Nachbarn aus Thüringen zu begrüßen. Als offizieller Vertreter des Landkreises war der stellvertretende Landrat Erwin Zeitler vor Ort. Der Bürgermeister mit Gemeinderat, Vertreter der Polizei und der Hilfsorganisationen von Feuerwehr und Rotem Kreuz waren ebenso dabei wie die Musikkapelle, unter deren Klängen die ersten Passanten aus dem Osten eintrafen. Es kam jedoch nicht, wie erwartet, als erstes ein Trabant, sondern ein Radfahrer bei uns an. Von nun an wollte die Schlange nicht mehr abreisen und im Nu war Nordhalben mit Trabbis überfüllt. Während die Feuerwehr den Verkehr zu regeln versuchte, sorgte das Rote Kreuz mit warmen Getränken am Übergang mit etwas Bekömmlichem gegen die klirrende Kälte. Auch in der Ortschaft war schnell alles überlaufen und die Straßen voller Leute. Während die einen sich, wie in 40 Jahren DDR gewohnt, an den vier Auszahlungsstellen anstellten, um das Begrüßungsgeld in Empfang zu nehmen, waren die anderen bereits im warmen „Haus des Gastes“, welches auch in den kommenden Wochen für eine Bewirtung der Gäste offen stand. Einen derartigen Zustrom mit mehr als 5000 Besuchern an einem Tag, nach sechs Tagen meldete man am Grenzübergang knapp 30.000 eingereiste Personen, hatte Nordhalben vorher noch nicht erlebt. Neben dem „Haus des Gastes“, wo viele freiwillige Helfer über Wochen hinweg für die Verpflegung der Gäste sorgten, diente das Rot-Kreuz Heim als Unterkunft für Besucher aus dem Osten, wo bis zu 20 Feldbetten bereitgehalten wurden.
Die Freude nach der Grenzöffnung – vor fast genau 20 Jahren – war auf beiden Seiten ungebrochen. Während wir uns im Westen über die Nachbarn und den friedlichen Verlauf des Grenzfalls freuten, war für die Bewohner der ehemaligen DDR zunächst die „Freiheit“ das wichtigste. Wie ich aus eigenen Erfahrungen noch weiß – und damals schnell mitbekommen habe – waren die Menschen gerade im Grenzbereich in der Anfangszeit skeptisch ob die Freiheit bleibt, oder alles nur eine „Eintagsfliege“ sei. Die etwas Weiterdenkenden und stets von den mächtigen der DDR unterdrückten Bürger machten sich nachdem die erste Euphorie vorbei war – es ging ja damals alles Schlag auf Schlag – bereits Gedanken, wie eine friedliche Einigung oder Einheit geschaffen werden kann. Als angehender Kommunalpolitiker, in Bayern standen wir ja nur wenige Monate vor den Wahlen, knüpften wir recht bald Kontakt zu den Freunden in Lobenstein und Wurzbach. Die „Ersthilfe“ in Sachen Demokratie und Demokratieverständnis wurden von den Nachbarn gerne angenommen. Bei den ersten Besuchen in Lobenstein, wo wir jedes Mal an der Grenze bei der Einreise genauestes kontrolliert wurden, stand immer wieder die künftige Lage in der DDR zur Diskussion. Noch heute sehe ich den verwunderten Blick des damaligen Pfarrers Döring, als er für ein Flugblatt rund 800 Kopien benötigte und ich ihm diese innerhalb eines Tages zusicherte. Kopiergeräte – zu dieser Zeit bei uns in jedem Kleinbetrieb vorhanden – standen im Osten weder Stadt noch Pfarrei zur Verfügung. Im Zuge einer dieser Treffen – zeitlich kann ich dies jedoch nicht mehr so richtig zuordnen – wurde Anfang Dezember auch die erste deutsch-deutsche Weihnachtsfeier, die kurz vor Weihnachten in der ATSV-Turnhalle stattfand, geplant. Rund 600 Gäste aus Ost und West feierten unter Mitwirkung vieler das erste gemeinsame Weihnachtsfest in Nordhalben. Zwischenzeitlich fand auch ein ökumenischer Gottesdienst am Grenzübergang und später eine Ausstrahlung im Bayerischen Rundfunk unter dem Titel „Grüße nach Drüben“ statt. Zur Weihnachtszeit hatten wir vom Roten Kreuz, es wurde immer noch recht peinlich an der Grenze kontrolliert, die Möglichkeit Obst ins Altenheim nach Ebersdorf zu bringen. Am 7. Januar des darauf folgenden Jahres machten sich einige Wanderer des Frankenwaldvereins zu Fuß auf den Weg nach Titschendorf. Über den Buckenberg kam man direkt in die Nachbargemeinde, die man vier Jahrzehnte nur von Weitem sehen konnte. Der doppelte Drahtzaun war immer noch vorhanden und extra wegen der Wandergruppe geöffnet worden, um nach dem verlassen der Gruppe wieder versperrt zu werden. In der Folgezeit kämpfte nicht nur der Frankenwaldverein, sondern auch viele andere für eine dauerhafte Öffnung der Grenze an dieser Stelle. Der CSU Ortsverband rief zu dieser Zeit auch zu einer Fackelwanderung auf, an der eine große Anzahl von Bürgern teilnahm, um wieder direkte Verbindung nach Titschendorf zu haben. Es sollte jedoch noch einige Zeit vergehen bis auch diese Forderung erfüllt wurde. Am Übergang „Rodacherbrunn“ wurden die Kontrollen später gelockert bzw. aufgegeben. Zudem wurde zu einem späteren Zeitpunkt die Fahrbahn verbreitert und die heutigen Verhältnisse hergestellt. mw
Vor fast genau 20 Jahren wurde der Schlagbaum auch bei Nordhalben entfernt.
Foto: Michael Wunder
Wo vor 20 Jahren die unmenschliche Grenze verschwand wurde jetzt ein Hinweisschild aufgestellt.