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Die Nordhalbener Geschichte ist um ein Kapitel reicher

Nordhalben: „Die Geschichte lebt und ist auch noch nach Jahrzehnten hochinteressant“, dies könnte man wegen des enormen Besucherzuspruchs auch auf das Werk zur Geschichte Nordhalbens von 1900 bis 1950 übertragen. Bis auf den letzten Platz gefüllt war das „Hotel zur Post“ bei der Vorstellung des von Georg Wunder (1899 – 1980), Hausname Roten-Görg, verfassten und von Dr. Harald und Horst Wunder veröffentlichten Werks. Damit wurde die im Jahr 2004 zur 850-Jahr-Feier der Gemeinde durch die Brüder Wunder aufgelegte Chronik mit dem Titel „Grenzerfahrungen Nordhalben 1154 – 2004“ um ein weiteres Stück bereichert. Der Obmann des Frankenwaldvereins Hermann Schwarz, dessen Verein sich für die Vorstellung verantwortlich zeigte, bekundete die Nähe des Verfassers zum Verein, den er als Mitglied jedoch nicht angehörte. Er bezeichnete den „Roten-Görg“ als einen bekennenden Menschen, guten Wanderfreund und als eine markante Persönlichkeit, dessen Ziel die Werterhaltung der Heimat war. Sein Dank galt bereits im Vorfeld der Vorstellung den Brüdern Wunder, die bisher prachtvolle Werke veröffentlicht haben und mit der neuesten Auflage wiederum die Bevölkerung erreicht haben. Dr. Harald Wunder, der insbesondere den Nachkommen für die Zustimmung zur Veröffentlichung dankte, ging zunächst auf die persönliche Entwicklung seines Onkels Georg Wunder, der im Ort vorwiegend als „Roten-Görg“ bekannt war, ein. Er wurde 1899 geboren und war deshalb stolz „kein Nuller“ zu sein. Nach der Höchstzahl von 7. Klassen Volksschule in seinem Heimatort trat er als 14-jähriger in der Firma Menger ein. Wie der Professor ausführte, haben die Menschen zu dieser Zeit – er hat zu späterer Zeit in seinen Semesterferien selbst dort gearbeitet – einen „Knochenjob“ verrichten müssen. Seinen Namen „Roten-Görg“ hat er nicht wie zu vermuten seinen sozialen Engagement oder der Parteimitgliedschaft bei der SPD zu verdankten, sondern zunächst ausschließlich seiner Haarfarbe. Später hat er neben den „Spottnamen“ auch noch in eine Familie mit den Hausnamen die „Roten“ eingeheiratet. Erst nach dem Eintritt ins Rentenalter hat er zwischen 1967 und 1969 die ereignisreiche Zeit seines Lebens und vor allem die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen beschrieben, denen die Einwohner Nordhalbens von der vorindustriellen Zeit um 1900 bis zum Beginn des sogenannten Wirtschaftswunders nach 1950 ausgesetzt waren. Nach zweijährigem Kriegsdienst 1919 aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekehrt, engagierte er sich bald in der Gewerkschaftsbewegung und vor allem für die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter in seinem Betrieb. Seine offenen Worte gegen Lohnkürzungen und erhöhte Arbeitszeiten sowie seine politische Stellungnahme hatten für ihn in doppelter Weise bittere Folgen. Während der Wirtschaftskrise wurde er 1930 als einer der ersten entlassen und war musste in dieser für ihm schwierigsten Zeit mit 9,13 Mark Arbeitslosengeld seinen Lebensunterhalt bestreiten. Nach der Machtübergreifung wurde er 1933 verhaftet und saß mehrere Wochen in sogenannter „Schutzhaft“, einer Art Beuge- und Warnhaft. Erst als er eine Versicherung unterschrieb, über diesen Zeitraum nichts zu berichten (was er auch treu befolgte) kam er wieder auf freien Fuß. Nach der Rückkehr wurde er bei der Firma Menger wieder eingestellt und war dort bis zum Eintritt ins Rentenalter im Jahr 1964 als Dreher beschäftigt. Wie Dr. Harald Wunder weiter ausführte sei nur der erste Teil der Chronik für die Veröffentlichung freigegeben. Der zweite Teil, wo er in einer entscheidenden Phase seines Lebens auch vom Glauben zur Kirche weg in eine andere Welt ging, stehe unter persönlichen Datenschutz und bleibe den Nachkommen vorenthalten. Darunter falle auch die Nachricht, wie es einen Nordhalbener Bürger gelang mit lediglich sieben Jahren Volksschule dem Philosophen Friedrich Nietzsche dessen Werke tiefgreifende Kritik an Moral, Religion, Philosophie, Wissenschaft und Formen der Kunst enthielt zu folgen. Der „Roten-Görg“ war auch im Besitz einer Menge von philosophischen Büchern. Den Schwerpunkt seiner Aufzeichnungen legte der Autor um 1900, also seiner Kindheitszeit. Das Kapitel um die äußerst kargen Verhältnisse mit den sehr beengten Wohnverhältnisse, brachte Horst Wunder den Besuchern nahe. Zwei Räume für Familien mit vier Personen waren kein Sonderfall, zufrieden waren vor allem die jungen Burschen, wenn sie auf dem Dachboden eine Schlafmöglichkeit fanden, um nicht im angedrohten Stall übernachten zu müssen. Das Dünger- und Kuhmistsammeln auf den Straßen weckte vor allem bei den älteren Besuchern Erinnerungen. Dr. Harald Wunder erinnerte an das Hauptnahrungsmittel Kartoffeln und die mageren Zutaten. Pro Familie waren rund 50 Zentner Kartoffeln notwendig, was bei etwa 200 Familien in Nordhalben ca. 10.000 Zentner Kartoffeln bedeutete. Der Sonntag war der „Klößtag“, wo man bei guter Lage noch für zehn Pfennig Leberwurst auf den Teller bekam. Auf die Kleidung und die vom örtlichen Schuster gefertigten Schuhe, welche von mehreren Personen getragen wurden, ging Horst Wunder ein. Viel los war immer an den Markttagen, welcher mit einem weithin bekannten Viehmarkt verbunden war. Als größtes Fest des Jahres galt damals das Fronleichnamfest, welches nach kirchlichen Umzügen in den zahlreichen Wirtschaften endete. Kinder gab es Massenweise, so dass in der Schule pro Klasse 80 bis 90 Schüler „untergebracht“ waren. Der „Roten Görg“ schrieb in seinen Memoiren, dass er genügend Prügel erhalten habe und bezeichnete sich als „Experimentierkanikel“ der Lehrer. Auf das ausführliche Kapitel Pfarrer Grandinger, der auch als Landtagsabgeordneter tätig war, wurde in der Vorstellung verzichtet und auf den Grenzboten verwiesen. Der Autor skizzierte auch das Chaos nach Kriegsende, den Zusammenbruch der Versorgung, die Völkerwanderung der ersten Nachkriegsmonate, die Not der Flüchtlinge und das Problem ihrer Unterbringung, die Trauer um viele Gefallene und Vermisste und nicht zuletzt die Errichtung der Zonengrenze auf einem Teil der Gemeindegrenze, die fortan als Eiserner Vorhang für Nordhalben von einschneidender Bedeutung sein sollte. Ein weiteres Kapitel zollte man den Schneidmüllern als „besonderes Völkchen“ mit reichlichen Kindersegen. Die Tochter des Verfassers Josefa Wunder dankte am Ende einer professionellen Vorstellung ihren Vettern für die Publikation und dem Frankenwaldverein für den Vorstellungsrahmen. Wie sie sagte, habe sie selbst erst sehr spät von den Aufzeichnungen ihres Vaters erfahren. Hermann Schwarz lobte im Schlusswort Harald und Horst Wunder für die saubere Überarbeitung in mühseliger Arbeit, wobei viel Menschliches zutage gekommen sei. mw


Dr. Harald Wunder bringt in gekonnter Art Ausschnitte aus dem neuen Geschichtsbuch den Gästen nahe, links daneben sein Bruder Horst Wunder. Foto: Michael Wunder